Arbeit, grenzenlos!

Von der unromantischen Ironie entgrenzter Arbeit

Nicht ganz ohne unser Zutun sind jäh viele Begrenzungen von Arbeit verschwunden. Statt Freiheit bringt uns das aber eher ins Wanken.

 

In mancher Hinsicht leben wir in romantischen Zeiten. Wieder geht ein Riss durch die Welt, von dem wir ironischerweise glauben, ihn nur durch Öffnen schließen zu können. Denn freilich, so sprach Novalis uns vor, sind alle Schranken „bloß des Übersteigens wegen da“ und machte sich mit seinen Zeitgenossen daran, die von Schiller postulierte „Tyrannenmacht“ der Grenzen zu bezwingen. Mancherorts steigen wir heute nach; setzen nationalstaatliche und räumliche Grenzen außer Kraft, negieren Geschlechtergrenzen, bestimmen moralische Grenzen neu.

Auch Arbeit, von jeher Muster beengter, gebundener und notwendiger Tätigkeit, lassen wir seit einiger Zeit stetig in die vormals abgetrennten Sphären unseres Lebens hinüberfließen. Vielleicht, weil Entgrenzung notwendig Teil des dynamischen Entwicklungsprozesses pluraler Gesellschaften ist, wo sich nun mal niemand gern unter Grenzen zwingen lässt, die nicht die eigenen sind und wo Lebendigkeit herrscht, die nicht tribalistisch einzuhegen ist. Wo bliebe da die Romantik?!

Ihr Erbe scheint zu sein, dass Entgrenzung inzwischen zum Modus des Daseinsvollzugs und individuelle Selbstverwirklichung zum kulturellen Imperativ westlicher Gesellschaften geworden ist. Dann ist es nur ordnungsgemäß, dass hier auch Arbeit entgrenzt ist: Tatsächlich tragen wir unsere Selbstverwirklichungsansprüche längst an Arbeit heran, die im Gegenzug möglichst frei und flexibel sein soll; entgrenzt bis hin zur Grenzenlosigkeit. Nur: Statt der Blauen Blume hegen wir blindlings ein diffuses Leiden ausgerechnet an dieser vermeintlich befreiten und dann – so hoffen wir – befreienden Arbeit. Entgrenzt wird Arbeit oft prekär und führt in ebensolche Existenzformen, in der wir an ganz neue, weitaus existenziellere Grenzen stoßen.

Dank seiner Verwandtschaft zu Novalis und Schiller darf ein gewisser Friedrich hier die Rolle des entgrenzt Tätigen spielen. Es scheint, dass immer dort, wo dieser Friedrich eine Barriere demontiert hat, sogleich eine andere entsteht, mit der er wieder neu umzugehen hat. Soll ihm hier vielleicht klar werden, dass man manchmal eben doch Grenzen braucht? Und warum scheint Entgrenzung ausgerechnet bei Arbeit nicht zu funktionieren? Oder doch? Welche Entwicklung spielt sich hier – ganz generell – ab? Und wie können wir sie beurteilen?

Entgrenzung von Arbeit ist zuerst eine soziologische Diagnose. Sie beschreibt, dass „Arbeit“ und „Freizeit“ sich theoretisch wie praktisch nicht mehr so leicht voneinander abgrenzen lassen; dass diese lebensweltliche Grenze, die in den früheren fordistischen Industriegesellschaften nahezu den Status eines Naturgesetzes hatte, sich auflöst oder zumindest an Bedeutung verliert. Mithin verändert sich unser Verhältnis zur Arbeit: Wir sind heute eher bereit, in der Freizeit zu arbeiten, für Kolleg*innen und Kund*innen erreichbar zu sein oder uns privat weiterzubilden, weil wir glauben, dass dies der angemessene Preis für Flexibilität, Gestaltungsspielräume und letztlich Selbstverwirklichung durch Arbeit ist, die immer unverkennbarer zur Zielvorgabe einer gelingenden Erwerbsbiografie wird.

Gestaltungsspielraum wird hinter den alten Grenzen gesucht und entgrenzte Arbeit setzt die berühmten vielen Gesichter auf: Sie ist Crowdworking, Heimarbeit, Ich-AG und Freelancing, findet outgesourcet, zu jeder Tageszeit und ohne soziale Absicherung statt, gerne im Zug, im Café oder am Strand des Pazifischen Ozeans, kennt keinen Feierabend und lässt sich auf private Kosten weiterbilden.

Friedrich wird hier nicht nur für seine Arbeit bezahlt, er bezahlt auch selbst: Mit einem Wort zielt entgrenzte Arbeit darauf, auch solche lebensweltlichen Ressourcen des Einzelnen für die Arbeit zu nutzen, auf die sie bislang keinen Zugriff hatte. So beginnen Entgrenzungsprozesse von Arbeit dort, wo wir selbst Zugverbindungen recherchieren und Fahrkarten drucken, Produktbewertungen in Onlineshops schreiben oder fremden Menschen Buchungsbestätigungen für einen Kurzurlaub in unserer schönen Berliner Altbauwohnung schicken. Wir stellen Zeit und Ressourcen Unternehmen zur Verfügung, die uns nicht angestellt haben und uns nicht entlohnen, die aber nicht selten eine Gebühr von uns verlangen für Arbeit, die wir eigentlich selbst tun. Während wir tun, finden wir das normal und in Ordnung, weil wir glauben, dadurch Wahl- und Handlungsfreiheit zu gewinnen, spannende Erfahrungen zu machen und genau das zu bekommen, was wir wollen.

Tatsächlich tun wir, als ob – und blicken dem Januskopf entgrenzter Arbeit in seine beiden Gesichter: Wo sie uns mit neuen Freiheiten und Möglichkeiten versorgt, Partizipation und die Verwirklichung individueller Interessen erleichtert, bedient sie sich unserer eigentlich freien Zeit und unserer eigentlich privaten Ressourcen. Gleichzeitig entzieht sie sich ihrer sozialen Verantwortung; das kann Unsicherheit, Druck und Ungleichheit erzeugen. Entgrenzte Arbeit tritt verbindlich unverbindlich auf und dort, wo sie nicht hingehört, gestattet dadurch aber auch bislang Ungehöriges: Etwa, dass Familien- und Berufsarbeit leichter vereinbar sind, wir auch in kurzfristigen Tätigkeiten verschiedene arbeitspraktische Erfahrungen machen und finanzielle Engpässe unkomplizierter überbrücken können.

Lässt sich eine Arbeitsorganisation, die uns so ambivalent begegnet, überhaupt praktisch bewerten? Notwendig ist eine Einschätzung angesichts der Leiden und schwierigen Existenzformen, die entgrenzte Arbeit offenbar verursacht, zweifellos. Dafür muss Friedrich noch einmal mustergültig einstehen und der Blick noch ein Stück tiefer gehen; auf die Mechanismen und die darunterliegenden Prozesse der gezeigten Entgrenzung von Arbeit, die sich dann noch einmal anders beschreiben lässt.

Eine mögliche Perspektive ist dann die, entgrenzte Arbeit als Teil eines allgemeinen, gesellschaftlichen Subjektivierungsprozesses zu zeigen; zu problematisieren, dass immer mehr Belange von Arbeit in den Handlungs- und Verantwortungsbereich des Einzelnen verrückt werden.

Eine eigene Sphäre der Arbeit gibt es nicht mehr, weil Friedrichs Zugriff auf seine Arbeit, aber auch der seiner Arbeit auf ihn, weit darüber hinausreicht. In verschiedener Hinsicht hat er größere Verantwortung und mehr Gestaltungsspielraum, etwa, was seine Arbeitsorganisation oder sein Arbeitshandeln betrifft, aber auch seine Arbeitsfähigkeit und die an Arbeit gebundene soziale Absicherung.

Entgrenzt ist Arbeit also deshalb, weil sich aus beiden Richtungen ihr Zugriff ändert, und zwar so, dass die Subjektivierung von Arbeit sich verdoppelt: Friedichs Einfluss auf die Arbeit reicht weiter als bislang, aber auch der des Unternehmens, für das er arbeitet, auf seine eigentlich privaten Belange. Was Friedrich als Freiheits- und Gestaltungsgewinn begrüßt, ermöglicht zuallererst seinem Arbeitgeber größere Flexibilität und Handlungsspielräume, nimmt diesem etwa Verantwortlichkeiten und Kosten ab. So wendet sich die Subjektivierung von Arbeit in ihrer Doppelung gegenwärtig zu Friedrichs Nachteil, vor allem deshalb, weil sie mit dem Prozess der Vermarktlichung von Arbeit zusammenfällt: Weil also die Imperative des Markthandelns, in einem Wort: die Wirtschaftlichkeit das Arbeitshandeln bestimmen, überlagert der unternehmerische Zugriff auf Arbeit den von Friedrich auf sie und die Aneignung von Arbeit passiert – aus Friedrichs Perspektive und aus der individueller Selbstverwirklichung – falschherum.

Gewissermaßen greift Vermarktlichung nun an den Grenzen an, die Friedrich in dem Willen, sich von rigiden Arbeitsformen zu emanzipieren, selbst geöffnet hat. Gerade, was die Beziehung zu seiner Arbeit angeht, haben die Imperative des Marktes gegenwärtig besonders viel Einfluss: Wo er sich Selbstverwirklichung versprochen hatte, wird er nicht nur mit seiner Arbeitskraft, sondern als Person wirtschaftlich funktional; er bringt sich ein; und zwar buchstäblich und viel mehr, als ihm lieb ist. Die Unternehmen und die Arbeit als solche fahren ihren Einsatz für ihn unterdessen zurück: Wenn Arbeit entgrenzt ist, dient sie nicht mehr verlässlich der sozialen Absicherung; soziale Risiken werden gleichfalls subjektiviert. Der Soziologe Ulrich Beck erklärt unsere Gesellschaft zu einer „Risikogesellschaft“, in der soziale Risiken zunehmend privatisiert werden. Sein französischer Kollege Robert Castel beschreibt eine „Entkollektivierungs-Tendenz“, die die Konstitution unseres Zusammenlebens als Ganzes angreift. Entgrenzung von Arbeit ist also letztlich Spielplatz und Ausdruck tiefgreifender sozialstruktureller Veränderungen und Arbeit dann nicht Zeugin, sondern Trägerin eines radikalen sozialen Wandels.

Für Friedrich ist die Bilanz so echt wie gefälscht, weil er die Kehrseite des eigentlich kritikaffirmativen Versprechens, Arbeit nicht mehr entfremdend, sondern sinnstiftend zu gestalten, bislang übersehen, dafür aber umso deutlicher gespürt hat.

Es scheint tatsächlich so zu sein: Wo man Grenzen beseitigt, werden neue errichtet. Das gilt gerade für Konstruktionen wie Gesellschaften, die eine tragende, geteilte und verbindliche Architektur brauchen; die verlässlich sein müssen, damit wir uns in ihnen zurechtfinden können. In Hegels Idee bürgerlicher Gesellschaften etwa geht Freiheit erst aus Notwendigkeit, Individualität erst aus Gebundenheit hervor. Der Tatbestand entgrenzter Arbeit zeigt, dass wir  Freiheit nicht allein durch das Niederreißen von Grenzen gewinnen. Wir müssen die entstandenen Leerstellen verteidigen und in unserem Interesse füllen, damit wir nicht unsererseits entleert und zum Goldenen Topf fremder, uns womöglich nachteiliger Nützlichkeiten werden. Die Ironie, dass uns nach unserer Selbstbefreiung hinter der Grenze ganz unvermutete Gräben erwarten, die wir eben nicht so einfach übersteigen können, ist nicht romantisch, sondern denkwürdig.

 

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